„Nachhaltigkeit braucht interdisziplinären Austausch“

Prof. Dr.-Ing. Irina Mazilu-Eyaz © Privat

Prof. Dr. Irina Mazilu-Eyaz lehrt und forscht im Fachbereich Ingenieurwissenschaften der Hochschule RheinMain (HSRM) zu ihrem Fachgebiet Qualitätsmanagement, Werkstoffkunde, Fertigungsmesstechnik und Circular Economy. Sie engagiert sich in der Präsidialen Kommission Nachhaltigkeit sowie in der Netzwerkgruppe „Fachkreis Nachhaltigkeit“ für eine nachhaltige Entwicklung an und außerhalb der HSRM. Im Interview erklärt sie, weshalb Nachhaltigkeit nur im interdisziplinären Austausch gefördert werden kann.

Zu den Kernthemen, mit denen Sie sich in Forschung und Lehre an der Hochschule RheinMain beschäftigen, gehören Nachhaltigkeit und insbesondere der Aspekt der Kreislaufwirtschaft. Was ist darunter zu verstehen und inwiefern zahlen diese Themen auf die nachhaltige Entwicklung unserer Umwelt und Gesellschaft ein?

Bei der Circular Economy handelt es sich um die Ausweitung des im deutschsprachigen Raum häufig verwendeten Begriffs der Kreislaufwirtschaft auf ein übergreifendes Konzept, das zirkuläre Wirtschaften.  Dabei geht es um die Umstellung von einer linearen Wirtschaft, die grob durch das Prinzip „take-make-waste“ gekennzeichnet ist, auf ein zirkuläres Wirtschaftsmodell, bei der nach Möglichkeit endliche Ressourcen, also nicht-erneuerbare Rohstoffe, im Kreis geführt und wieder verwertet werden. Die Verarbeitung von Primärrohstoffen steht im Zusammenhang mit umweltschädlichen Emissionen, birgt – bedingt durch Importabhängigkeiten –aber auch finanzielle Risiken. Mit Hilfe von neuen Geschäftsmodellen wie zum Beispiel Sharing-Konzepten, der Verlängerung der Nutzungsdauer durch Produkt-Wiederaufbereitungsmöglichkeiten oder einer recyclinggerechten Konstruktion wird versucht, den technischen Werkstoff-Kreislauf zu schließen. Die Circular Economy liefert durch die Einsparung von Primärrohstoffen und die Schonung von Ressourcen einen konkreten Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit in der Gesellschaft.

Ganz allgemein gesprochen – inwiefern wirken sich Nachhaltigkeitsaspekte auf Ihre Tätigkeiten in Forschung und Lehre an der HSRM aus? Welche Projekte gab es bereits, was ist für die Zukunft geplant?

Soweit es die Rahmenbedingungen zulassen, spreche ich in meinen Kernfächern Qualitätsmanagement, Werkstoffkunde und Fertigungsmesstechnik, die ja klassische Fächer der Ingenieurwissenschaften sind, Aspekte der Nachhaltigkeit bei den Studierenden an. Da geht es um eine Bandbreite von Themen: Wie kann Stahl nachhaltiger erzeugt werden? Wie funktionieren Ressourceneinsparung und Nachhaltigkeit durch clevere Wartung und neue Geschäftsmodelle bei Messinstrumenten? Und was hat es mit dem Lieferketten­sorgfaltspflichten­gesetz auf sich? Nach Möglichkeit organisiere ich Vortragsreihen mit externen Expert:innen, die den Studierenden interessante und praxisnahe Einblicke in aktuelle Nachhaltigkeitsthemen geben. Aus Forschersicht interessieren mich Querschnittsthemen zwischen dem Qualitätsmanagement, der nachhaltigen Anwendung von Materialen und der Transformation ins zirkuläre Wirtschaften sowie allgemein die aufkommenden Synergien zwischen dem Qualitätsmanagement und der Nachhaltigkeit in Unternehmen.

Was möchten Sie Ihren Studierenden in Bezug auf Nachhaltigkeit in ihr zukünftiges Berufsleben mitgeben?

Wie im Qualitätsmanagement wird es in naher Zukunft keine Funktionen in Unternehmen mehr geben, die ohne Schnittstellen zur Nachhaltigkeit auskommen. Es liegt also auf der Hand, im unternehmerischen Kontext Parallelen zwischen der Entwicklung des Qualitätsmanagements und der Nachhaltigkeit zu ziehen. Um nur ein paar Entwicklungsschritte zu nennen: Das Qualitätsmanagement hat sich über Jahrzehnte hinweg von der reaktiven Qualitätskontrolle über die präventive Qualitätssicherung zum integrierenden und letztendlich strategischen Total-Quality-Management entwickelt, welches unternehmensübergreifend und ganzheitlich handelt. Bei der Nachhaltigkeit wird ein ähnlich evolutionärer Prozess beobachtet. Anfänglich gab es vereinzelte Umweltschutzprojekte, die zum Beispiel darauf abzielten, Naturräume von Industrieabfällen zu säubern. Über den präventiven betriebsspezifischen Umweltschutz, die Cleaner Production, die durch Verbesserungsmaßnahmen Industrie-Prozesse effizienter gestaltet und somit Abfälle reduziert, wurde die Perspektive auf eine ganzheitliche Betrachtung gelenkt. Durch die Integration von Nachhaltigkeitsprinzipien in alle Geschäftsbereiche werden mittlerweile über die bloße Einhaltung von Umweltstandards hinaus auch soziale Verantwortung und wirtschaftliche Stabilität erforderlich.

Das bedeutet nicht, dass nun alle Studierenden Nachhaltigkeitsexpert:innen werden müssen, aber genauso wie das Erlernen der Qualitätsmanagement-Grundlagen ein Standard ist, sollten alle Studierenden Einblick in die Grundlagen der Nachhaltigkeit wie umweltgerechte Produktentwicklung oder neuartige Geschäftsmodelle im Rahmen der Circular Economy erhalten. Zum Glück ist das Thema Nachhaltigkeit derart vielschichtig, dass es für alle Entwicklungspotenzial bietet, von der Tüftlerin zum Sozialarbeiter, vom Architekten zur Wirtschaftsingenieurin, sie alle können ihren Beitrag im Berufsleben zur Nachhaltigkeit leisten.

Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den ich auch in meinen Vorlesungen hinweise ist, dass es nicht die eine nachhaltige Lösung „von der Stange“ gibt. Jede Problemstellung weist andere Rahmenbedingungen auf und deshalb gilt es immer, kritisch zu hinterfragen. Was nutzt die Einsparung von Ressourcen durch die Erhöhung der Materialeffizienz, wenn die Werkstoffe am Lebensende nicht einfach recycelbar sind? Was ein nachhaltiges Refurbish-Geschäftsmodell, wenn die Reverse-Logistik hohe Emissionen verursacht. Es gilt immer im Blick zu haben, dass die Auswirkungen auf die Umwelt, sei es von Produkten oder Dienstleistungen, entlang der ganzen Lebenszyklusdauer zu betrachten sind. Die soziale Komponente der Nachhaltigkeit verlangt darüber hinaus, dass es faire Arbeitsbedingungen entlang der Wertschöpfungskette gibt. Nachhaltiges Wirtschaften ist demzufolge eine hochkomplexe Aufgabe, deshalb ist meine Botschaft an die Studierenden, dass dieses nur mit einem interdisziplinären und ganzheitlichen Ansatz gelingen kann und sie den Mut haben sollten, auch über ihren fachlichen Tellerrand zu schauen.  

Außerhalb Ihrer Tätigkeit an der HSRM sind Sie Teil der Leitung der Netzwerkgruppe „Fachkreis Nachhaltigkeit“ der Deutschen Gesellschaft für Qualität e. V. (DGQ). Was sind dort Ihre Aufgaben und Ziele und inwiefern fließen Erkenntnisse dieses Engagements in Ihre Lehre und Forschung an der Hochschule ein?

Die ehrenamtliche Arbeit im Leitungsteam des Fachkreises für Nachhaltigkeit der DGQ ist sehr bereichernd. Dieser Fachkreis wurde erst im Mai 2023 offiziell gegründet und erfährt seitens der DGQ-Mitglieder einen großen Zuspruch. Das liegt an der Aktualität des Themas und an der Notwendigkeit zur Umstellung der unternehmerischen Tätigkeiten in Sinne der Nachhaltigkeit. Zu dem Selbstverständnis des Fachkreises gehört unter anderem, „dass sich die Mitglieder ihrer unternehmerischen Verantwortung gegenüber der Umwelt und der Gesellschaft, aber auch der eigenen Organisation bewusst sind und der Vereinigung von Managementsystemen und Nachhaltigkeitsbestrebungen.“

Wir arbeiten dort in kleineren Teams an User-Storys zu unterschiedlichen Bereichen der Nachhaltigkeit, das heißt wir entscheiden zusammen mit den Mitgliedern, die größtenteils aus sehr unterschiedlichen Unternehmensbranchen stammen, welche Themen gerade am wichtigsten sind und welche Unterstützung gewünscht wird. Die Story-Teams treffen sich virtuell, nach der gemeinsamen Formulierung der User-Story, in der der genaue Inhalt, die Zielgruppe und der Nutzen definiert werden, um zum Beispiel Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. Der fachliche und kollegiale Austausch steht im Vordergrund, deshalb kann ich jeder und jedem die Teilnahme an Fachkreisen empfehlen, sei es auch nur als Zuhörer:in.

Ein deutlicher Gewinn für meine Lehre und Forschung an der Hochschule ist die zeitnahe Rückkoppelung zwischen Theorie und Praxis. Alle Themen rund um Nachhaltigkeit, seien es politische Gesetzgebungen, marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen oder die gesellschaftliche Wahrnehmung, unterliegen derzeit einem raschen Wandel. Ein Abgleich mit der Realität, „wo drückt der Schuh“, gerade bei kleinen und mittleren Unternehmen, ist unabdingbar.  

Wieso liegt Ihnen das Thema Nachhaltigkeit am Herzen und was würden Sie sich zukünftig konkret für die nachhaltige Entwicklung unserer Hochschule wünschen?

Wünschenswert ist, dass das Thema der Nachhaltigkeit in allen Studiengängen im Curriculum Einzug hält, um alle Studierenden für diese Themen zu sensibilisieren, auch diejenigen, die sich nicht bewusst für eine Vorlesung mit Themen der Nachhaltigkeit entschieden haben. Ebenso sollte es Anreize und Unterstützungsmöglichkeiten für den interdisziplinären Austausch, zum Beispiel für fachbereichsübergreifende Projekte, geben. Aus meiner Wahrnehmung werden beide Aspekte der nachhaltigen Entwicklung zurzeit in unserer Hochschule erfolgreich adressiert. Das liegt auch an einer Vielzahl engagierter Kolleg:innen, die in dem Bereich tätig sind.

Seit einigen Monaten sind Sie Teil der Präsidialen Kommission Nachhaltigkeit der HSRM. Was ist dort Ihre Aufgabe und welche Themen haben Sie in dieser Funktion bislang beschäftigt? Was sind aktuelle und zukünftige Ziele, die Sie in diesem Gremium verfolgen möchten?  

In der Präsidialen Kommission Nachhaltigkeit (PKN) vertrete ich den Fachbereich Ingenieurwissenschaften. Die Aufgabe der PKN ist, das Nachhaltigkeitsbüro und Nachhaltigkeitsprojekt beratend zu begleiten und im Sinne einer strategischen Beratung zu beauftragen. Somit ist die PKN das zentrale Nachhaltigkeitsgremium an der HSRM. Die PKN berät auch die Hochschulleitung zu Nachhaltigkeitsthemen. So gab es zum Beispiel einen Auftaktworkshop zur Nachhaltigkeitsstrategie, bei dem Hochschulangehörige zu unterschiedlichen Handlungsfeldern gemeinsam wichtige Eckpunkte erarbeitet haben. Die Ergebnisse flossen dann in die Erstellung der Nachhaltigkeitsstrategie der HSRM ein. Neben diesem partizipativen Ansatz, der von der PKN verfolgt wird, besteht der Wunsch nach einer Netzwerkbildung zum Thema Nachhaltigkeit innerhalb der Hochschule.