WOHN-VISIONEN #13

© Prof. Dr. Frank Eckhardt

© Tobias Groll

© Prof. Dr. Michael May und Elvira Schulenberg

Warum halten sich Menschen – auch solche, die über einen eigenen Wohnsitz verfügen – lieber in Parks oder auf Bahnhofsvorplätzen auf? Über diese und weitere Fragen tauschten sich am 19. Juli 2022 Expert:innen der Sozialen Arbeit mit interessierten Studierenden und Bürger:innen im Rahmen der Veranstaltung WOHN-VISIONEN aus. Hierzu eingeladen hatte das interdisziplinäre Transferprojekt IMPACT RheinMain in Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain. „Ziel des Formats ist es“, so Alexandra Zein, Projektmitarbeiterin und Moderatorin der Veranstaltung, „die Zivilgesellschaft stärker in Forschungsprojekte einzubeziehen und für gesellschaftliche Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu sensibilisieren“. Wen laden Öffentliche Räume ein, wen nicht und mit welchen Konsequenzen?

Gestaltungsprinzip „sicher und sauber“ verdrängt die Menschen
Prof. Dr. Frank Eckhardt, Professur für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar, gab in seinem Referat einen kurzen Überblick über die Funktion und Rolle Öffentlicher Räume aus wissenschaftlicher Sicht. Es zeichne sich eine zunehmende soziale Segregation und Gentrifizierung ab, mit der Folge, dass die Toleranz von Menschen gegenüber Differenz abnehme und sich die Normen der stärkeren, oft besser situierten Gruppen durchsetzten. Dies sei in den USA schon früher im Öffentlichen Raum erkennbar geworden. Das Gestaltungsprinzip „sicher und sauber“ setzte sich auch in Deutschland seit den 2000er-Jahren zunehmend durch. Eckhardt veranschaulichte dies an fotografischen Beispielen defensiver Architektur aus Thüringen. „Zementierte Ausschlüsse“ seien die Einzel-Sitzbänke in Weimar, die ein Miteinander und einen längeren Aufenthalt vermeiden sollen. Auch für Menschen mit Behinderung seien diese Möbel nur schwer zugänglich und unattraktiv. Die Herleitung und Beispiele machten deutlich, dass die integrative Funktion öffentlicher Räume nicht selbstverständlich ist, sondern einem Normenkonflikt unterliegt. Die sozial stärkere Gruppe setze sich durch und damit die kommerzialisierte Nutzung zum Nachteil vulnerabler Gruppen.

Öffentlicher Raum als Ort der Teilhabe und Inklusion
Tobias Groll M. A., Sozialarbeiter und Streetworker in München, stellte Ergebnisse seines Handlungsforschungsprojektes „WOHNEN ABSEITS DES NORMATIV - Das Phänomen der Wohnungsflüchter:innen interpretiert als ein ‚Anders-Wohnen‘“ vor und berichtete aus seinem Tätigkeitsfeld. Wohnungsflüchter:innen sind Menschen, die über (mietvertraglich abgesicherten) Wohnraum verfügen, sich im Alltag aber überwiegend im Öffentlichen Raum aufhalten. Tobias Groll beforscht einen Parkbereich in München, in dem sich bis zu 50 Wohnungsflüchter:innen aufhalten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. In qualitativen Interviews erfährt der Streetworker mehr über deren Wohngewohnheiten und ihre Gründe, diesen Ort aufzusuchen. Häufig biete die Wohnung nicht das, was zum Wohnen benötigt werde: zum Beispiel soziale Kontakte. Die Gemeinschaft am Platz werde trotz Konflikten etwa als eine Art Familie empfunden, wo man sich auch kümmere. Das „Anders Wohnen“ trage somit zur Befriedigung der Bedürfnisse und Teilhabe dieser Menschen bei und verringere deren Wahrnehmung von Exklusion, was über die Bereitstellung von Wohnraum (Unterbringung) hinausgehe.

Es ist möglich, Verschiedenartigkeit nebeneinander existieren zu lassen
Gewissermaßen als Synthese der beiden Perspektiven präsentierten Prof. Dr. Michael May und Elvira Schulenberg Ergebnisse und Erfahrungen einer im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes im Auftrag der Stadt Limburg durchgeführten Sozialraumanalyse des dortigen Bahnhofsvorplatzes. An diesem Ort, der seit Längerem als „Angstort“ von vielen Bürger:innen empfunden werde, ist auch durch ergriffene Sicherheitsmaßnahmen wie Polizeipräsenz und Videoüberwachung das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung nicht gestiegen, sondern gesunken und dies trotz drastisch gesunkener Delikte an diesem Ort. Zudem ist es nicht gelungen, durch diese Maßnahmen sowie defensive Architektur, wie sie im ersten Vortrag thematisiert wurden diverse Gruppen von Wohnsitzlosen und Wohnungsflüchter:innen, wie sie Gegenstand des zweiten Vortrages waren, zu vertreiben. Die Wissenschaftler:innen und Studierenden fanden in einer aktivierenden Befragung heraus, dass unter anderem die negative Berichterstattung den Bahnhofsvorplatz Limburg als „Angstort“ reproduziere. Passagere Personen gaben in der Befragung an, sich an schlafenden Menschen im Gras zu stören, die ihnen oder ihren Kindern Angst machten. Dabei konnte in einer Fotoillustration (Utopie) deutlich gemacht werden, dass ein Mensch auf einer Liege weniger angsteinflößend wirkt als auf dem Boden liegend. Neben solchen Differenzen zeigten sich aber auch erstaunliche Parallelen zwischen denjenigen, die diesen Platz als ihr „Wohnzimmer“ und denjenigen, die ihn nur passager nutzen, im Hinblick auf mehr Begrünung und mehr Verweilgelegenheiten. Über eine Postkartenkampagne und einen Tag der Begegnung mit symbolischen Begrünungs- und Platzmöblierungsaktionen auf dem Bahnhofsvorplatz gelang es dem Projekt, mehr positives Medienecho zu generieren und Passagere Personen und Nutzer:innen miteinander in Kontakt zu bringen. Die beiden Forschenden zeigten sich optimistisch: „Heterotopien positiv zu leben: in Limburg war dies erlebbar!“ Es scheint möglich zu sein, Verschiedenartigkeit nebeneinander existieren zu lassen und den Ort als Begegnungsort zivilgesellschaftlich zu entwickeln. So zeigen auch Nutzer:innen sich bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen.

In der anschließenden Online-Podiumsdiskussion, an der sich auch das Publikum engagiert beteiligte, wurde kritisch hinterfragt, wer normativ den Rahmen für einen „guten“ Öffentlichen Ort vorgebe. Die Sichtbarkeit von vulnerablen Gruppen und damit auch die Konfrontation mit gesellschaftlichen Problemen sei für die Gesellschaft wichtig und jede/r einzelne gefragt, hier eine aktive (gestaltende) Rolle einzunehmen.